Es kommt nicht oft vor, dass jemand seinen 100. Geburtstag begeht. Noch seltener wird dieser Tag wohl ganz groß gefeiert. Daher ist der 100. Geburtstag von Helene Roznowicz aus Freilingen schon etwas ganz Besonderes. Denn "Komme Len", wie sie von allen genannt wird, hat genau auf ihren doppelt genullten persönlichen Feiertag die ganze Familie zu einem großen Fest eingeladen, wie es sich gehört im Saal der örtlichen Kneipe. Und an diesem Tag gibt es bestimmt ganz viel zu erzählen. Denn trotz kleiner Hördefizite erzählt die rüstige alte Dame noch ausgesprochen gerne, mit und von anderen. WiF möchte ihr mit diesem etwas anderen Interview schon jetzt ganz herzlich zu ihrem großen Jubiläum gratulieren. Ein sehr beeindruckendes Portrait!

 

Es ist der 1. August, als ich mich wie verabredet zu Helene Roznowicz begebe, um mich mit ihr über ihren bald anstehenden 100. Geburtstag zu unterhalten. Ich gehe mit ihrer ältesten Tochter Rita, die Garten an Garten mit der Mutter wohnt und die gerade nach dem Rechten sehen will, durch die Hintertür ins Haus.

„Komme Len“, wie sie von allen, vor allem den älteren Freilingern genannt wird, sitzt in einer kleinen Stube und ist mit ihrem Gebiss beschäftigt. „Ich zieh noch gerade meine Zähne an, dann komm ich“, ruft sie mir zu. Ich setze mich an den Tisch im Esszimmer und warte, bis sie mit ihrem Rollator ins Zimmer kommt. Sie setzt sich zu mir und stellt erst einmal fest, dass sie zu tief auf dem Stuhl sitzt. „Ich komm mir so klein vor, Rita, bring mir ein Kissen, damit ich höher sitze“ ruft sie ihrer Tochter zu, die freundlicherweise für uns gerade Kaffee kocht. Ich soll ihr ein Kissen geben, dass auf der Eckbank liegt. Sie setzt sich darauf und das Kissen, das Rita ihr bringt, wird im Rücken postiert. Man spürt, wie wichtig es ihr ist, dass sie auf Besucher nicht alt und gebrechlich wirkt. Auch mit 100 kann man noch in gewisser Weise eitel sein.

Jetzt kann es losgehen und nach einer nochmaligen herzlichen Begrüßung versuche ich ihr zu erklären, was der Grund meines Besuches ist. Einen Bericht würde ich gerne über sie machen, für unsere Internetseite, weil es ja doch etwas Besonderes ist, wenn man 100 Jahre alt wird. Ich spreche ganz langsam und laut, weil sie mit ihren fast 100 Jahren zwar noch wirklich gut aussieht und dank Rollator auch noch erstaunlich mobil ist, aber nicht mehr so gut hört. „Hast Du kein Hörgerät“, hake ich nach. Sie lacht und winkt ab. „Ich habe zwar eins, das ziehe ich aber nicht an, weil es ständig piepst. Es geht einfach nichts über das normale Hören“, erklärt sie mir.

Geplant habe ich im Vorfeld eine Art Interview mit ihr, wofür ich mir eigens ein paar Fragen notiert habe. Zum Einstieg frage ich erst einmal nach ihrem Haus. „Das ist doch Dein Elternhaus hier, in dem Du wohnst“, will ich wissen, weil ich davon ausgehe, dass sie quasi ein Leben lang in Freilingen gewohnt hat und ich eigentlich fragen will, ob sie gerne einmal woanders gelebt hätte als in Freilingen.

(Foto des Haus "Komme" von 1926: von links: Katharina Göbel mit den Kindern Lenchen, Kathrinchen und Anton)

„Ja, das ist richtig. Und ich habe eigentlich immer hier in dem Haus gewohnt“. Fast immer. Denn es war zufälligerweise am 1. August 1964, als das Haus und der damals noch angrenzende Stall vom Feuer heimgesucht und schwer beschädigt wurden. „Damals war Sportfest in Freilingen, das ist aber wegen des Brandes abgesagt worden“. Alle hätten damals helfen wollen, das Haus für ihre siebenköpfige Familie, die im Dorf in einem kleinen Haus zwei Zimmer Zuflucht gefunden hatte, wieder aufzubauen. Aber man hätte nicht so richtig gewusst, wo und wie man anfangen sollte.

Dann wäre Sturms Martin gekommen und hätte gesagt: jetzt ist Schluss. jetzt fangen wir einfach an. Und schon hätten alle angefangen, Schutt wegzuräumen und den Wiederaufbau zu starten, und das, obwohl Handwerker in der Zeit schwer zu bekommen waren, weil es überall genug zu tun gab. Bereits wenige Monate später, im November, konnte die Familie das Haus schon wieder beziehen. „Das vergesse ich Sturms Martin niemals, dass er das damals so in die Hand genommen hat. Der muss auf jeden Fall auf meinen Geburtstag kommen“, gibt sie ihrer Tochter, die sich inzwischen zu uns an den Tisch gesetzt hat, zu verstehen. Diese nickt und bestätigt, dass er zu der großen Feier eingeladen ist, die genau an ihrem 100. Geburtstag im Saal von Meiershof mit der ganzen Familie gefeiert werden soll.

Sie hätte eigentlich gar nicht feiern wollen, aber die Kinder und Enkel hätten darauf bestanden. „Ich habe es nicht geschafft, ihnen das auszureden. Die Enkelkinder waren am schlimmsten“, führt sie lächelnd an. Aber ich glaube, eigentlich ist sie ganz froh, dass das Fest für sie organisiert wird. Denn „Len“ ist eine positiv denkende Frau, mit viel Humor, aber vor allen Dingen auch viel Energie, trotz des hohen Alters. Und einem großen Durchsetzungsvermögen, das wahrscheinlich von einer unbändigen Hartnäckigkeit stammt, das wird mir nach und nach klar.

Denn ich erfahre dann eigentlich schon fast nebenbei, dass sie eben nicht ein Leben lang nur in Freilingen verbracht hat, sondern sogar zwei Jahre im fernen Berlin gelebt hat. „Wie bist Du denn ausgerechnet nach Berlin gekommen?“ frage ich verwundert. Und dann fängt sie an zu erzählen, von ihrem Josef, der während des Krieges als polnischer Kriegsgefangener in Freilingen arbeiten musste und den sie als junge Frau trotz aller damaligen Warnungen und Verbote lieben gelernt hat.

Als sie 1943 schwanger wird, darf das niemand wissen, weil es für alle zu gefährlich ist. Lebensgefährlich. Daher verlässt sie Freilingen, bevor sich ihre Schwangerschaft rundspricht. „Nun, ich musste von der Bildfläche verschwinden. Ich dachte damals, in Berlin wäre ich weit genug von zu Hause weg und dort kennt dich garantiert keiner, in Köln waren viele Eifeler Mädchen in Stellung. Also bin einfach dorthin gefahren. Nachts um halb zwölf kam ich am Bahnhof an.“

In der damaligen Reichshauptstadt sucht sie sich eine Unterkunft und eine Arbeit. Sie kämpft sich nicht nur durch, sondern versucht auch, sich weiterzubilden, obwohl sie nach der Geburt ihres Sohnes alleinerziehend ist. Als sie anfängt sagt man ihr, dass sie es nie schaffen werde, als Frau alleine ein Kind in Berlin groß zu ziehen „Da habe ich geantwortet: Lassen Sie das meine Sorge sein“, führt sie aus. Und dank ihres Fleißes erarbeitet sie sich eine gute Stelle bei der Bahn. Weil die Männer großenteils im Krieg sind, schickt ihr Vorgesetzter sie auf Reichsbahnschule, wo sie einen Kurs nach dem anderen macht. Er glaubt an sie und sie auch an sich. Sie arbeitet Tag und Nacht hart an ihrem Weiterkommen, bis sie sogar Aufsichtsbeamtin wird. Sie kommt richtig ins Schwärmen, als sie davon erzählt, was sie damals alles gemacht und organisiert hat. „Ich hatte drei Bahnhöfe unter mir in der Verwaltung. Das hat mir sehr gut gefallen“.

Man kann sich kaum vorzustellen, was es für ein Kraftakt gewesen sein muss, sich unter diesen Umständen alleine in Berlin durchzuschlagen. Ein Paradebeispiel einer alleinerziehenden berufstätigen Mutter, und das unter den damaligen Bedingungen. Ich werde ganz ehrfürchtig. „Einmal habe ich dann tatsächlich doch Bekannte in Berlin getroffen: zwei Lommersdorfer, mitten drin auf der Friederichstraße“, führt sie lachend noch an. Ja, die Welt ist offenbar klein, auch und erst recht im Krieg. „Es war eine wunderbare Zeit in Berlin mit ganz wunderbaren Menschen“.

Sie wäre auch bestimmt dort geblieben, wenn nicht die Russen gekommen wären, erzählt sie weiter. Das nahende Kriegsende bedeutet für Helene damals auch das jähe Ende ihres Lebens in der großen Stadt, zumal der Chef ihr rät, schleunigst die Stadt zu verlassen. Mit ihrem kleinen Sohn Jürgen macht sie sich Ostern 1945 zurück auf den langen Weg nach Freilingen, wo sie nach wochenlanger Reise im August ankommt. Dort weiß niemand, dass sie ein Kind geboren hat. Aber sie wird mit offenen Armen aufgenommen, auch von Josef, der seinen Sohn das erste Mal sieht. Ein Neuanfang.

Die beiden heiraten. Das ist jetzt erlaubt. Aber Helene verliert durch die Heirat mit einem Polen automatisch ihre deutsche Staatsbürgerschaft. Denn Josef gilt in Deutschland als staatenlos. Einen Bescheid darüber bekommt sie nicht. Auf einmal ist auch sie staatenlos, ebenso ihr kleiner Sohn. Und auch ihre drei Töchter, die zwischen 1948 und 1959 allesamt in Freilingen und damit ja auch irgendwie mitten in Deutschland geboren werden, gelten nicht als deutsche Staatsbürger. Ich kann mir das gar nicht vorstellen: Man geht als Deutsche in das Standesamt hinein und als Staatenlose wieder hinaus. Genauso unvorstellbar: Man wird in Deutschland geboren und gilt dennoch nicht als Deutsche? Rita und auch Hedwig, die andere, gleich nebenan lebende Tochter, die sich inzwischen ebenfalls zu uns gesellt hat, bestätigen dies. Dies hätten sie als Kinder in der Schule immer zu spüren bekommen.

Erst 1964 wird die gesamte Familie nach zahlreichen vorherigen Untersuchungen auf Antrag offiziell eingebürgert. Davon zeugt die Einbürgerungsurkunde, die man mir zeigt und auf der alle 6 Roznowicz aufgeführt sind, nebst der angefallenen Beurkundungsgebühr von 400 DM. Die Gebühr wird zwar auf Antrag auf 200 DM ermäßigt, aber auch das ist Mitte der 60er Jahre noch viel Geld.

Wie muss man sich wohl fühlen, wenn man als urechte Freilingerin nur wegen einer Heirat seine Staatsangehörigkeit aberkannt bekommt und erst nach einem Antrag wieder teuer erkaufen muss? Helene ist über diesen „Staatsakt“ in jedem Fall auch heute noch verärgert. „Ich habe in meinem Leben noch nie gewählt.“ Zuerst durfte sie nicht und später wollte sie dann auch nicht mehr. „Ich verstehe es nicht. Ich war immer deutsch und bin auch immer deutsch geblieben. Nachdem die mir das aberkannt haben, habe ich gedacht, jetzt bekommt ihr mich auch nicht mehr. Da war ich bockig“. Josef sei nach der Einbürgerung immer zur Wahl gegangen, aber sie habe sich trotz der guten Zurede ihrer Familie bis heute standhaft geweigert (obwohl sie heutzutage natürlich die Wahlbenachrichtigungen bekommt).

„Das hat ja auch mit meinem Geburtstag nichts zu tun“, führt sie an. Da muss ich dann lachen. „Zum 100. Geburtstag bekommst Du sogar vom Landrat ein besonderes Glückwunschschreiben. Das sieht dann fast so aus wie eine Urkunde. Ich mach Dir dann als Ortsvorsteherin auch noch eine offizielle Einbürgerungsurkunde für Freilingen“ scherze ich und schlage ihr vor, dass sie ja dann mit 100 Jahren im nächsten Jahr zum ersten Mal wählen gehen könnte. Dann stünden nämlich die nächsten Kommunalwahlen an, wenn sie schon in der Vergangenheit nicht gewählt habe (mich ja dann auch nicht). Erstwählerin mit 100, das hat was. Sie lacht und schüttelt den Kopf. Die Verbitterung sitzt tief, auch nach all den Jahren.

Ich schaue auf meinen Zettel mit den notierten Fragen und versuche dann doch einmal, einige davon abzuarbeiten. „Was würdest Du Dir wünschen, wenn Du zu Deinem 100. Geburtstag einen ganz besonderen Wunsch frei hättest?“.
„Für mich oder für die anderen?“ will sie wissen. „Einen ganz besonderen Wunsch, nur für Dich“, ergänze ich meine Frage. Sie überlegt kurz und antwortet dann: “Was ich mir wünschen würde...dass meine Familie so zusammen hält, wie sie bis jetzt zusammengehalten hat. Anders nichts!“. Da klingt viel Wehmut raus, aber auch viel Liebe für ihre drei Töchter Rita, Hedwig und Katharina, 8 Enkelkinder, 10 Urenkel und den Rest der Familie.

Mit 100 Jahren weiß sie offenbar genau, was im Leben am wichtigsten ist. Familie eben! Und Freunde natürlich.

Denn auf die Frage, wen sie denn von ihren ehemaligen Wegbegleitern im Leben gerne noch einmal wiedersehen würde, wenn sie sich das aussuchen könnte, antwortet sie spontan:“ An erster Stelle natürlich meinen Mann und meinen Sohn, die sind ja beide tot. Aber abgesehen von den beiden: Thieße Gerta und Mungens Gerta“. Sie hat ein richtiges Leuchten in den Augen. „Waren das Deine Freundinnen?“, will ich wissen. „Aber wie! Wir haben zusammengehalten durch dick und dünn“, betont sie mit einem unüberhörbaren Nachdruck in der Stimme. Und dann erzählt sie von ihren Freundinnen, die auch ihre Nachbarinnen waren, und wie sie damals ihre Zeit zusammen verbracht und die Kinder bekommen haben. „Das war eine schöne Zeit und eine wunderbare Gemeinschaft“.

Mir fällt auf, wie oft sie von schönen Zeiten spricht. Kein Jammern, kein Wehklagen. Dabei kann man sich bei all den vielen Erinnerungen, die sich in 100 Jahren ansammeln, leicht vorstellen, dass auch viele dunkle Tage dabei waren. Schließlich hat sie den zweiten Weltkrieg durchlebt, der sowohl in ihrer 10köpfigen Familie als auch in der polnischen Familie ihres geliebten Josef tiefe Wunden geschlagen hat. Da mussten sicherlich viele Gräben und traurige Stunden überwunden werden.

(aus der Freilinger Chronik: Totenzettel der beiden Brüder von Helene, Jakob (24 Jahre) und Wilhelm (26 Jahre), die 1941 nur zwei Monate nacheinander starben)

Komme Len ist auch mit 100 Jahren glücklich und zufrieden, selbst wenn sie nicht mehr gut hört. Auch die Beine würden nicht mehr gut hören, scherzt sie. Die kleinen und großen Beschwerden werden eben immer schlimmer. Das bleibt im Alter leider nicht aus.

“Ich wollte nie 100 hundert werden. Zu viele junge Leute sterben zu früh. Jedesmal wenn einer stirbt, der noch im Leben gebraucht wird und etwas erreichen könnte, denke ich immer, dass eigentlich ich eher dran gewesen wäre. Solange man sich noch selber helfen kann, ist es gut. Aber alt werden und sich vorne und hinten „betutteln“ lassen...das mach ich nicht und das will ich auch nicht. Da werde ich „krabitzig“.

Das glaube ich gerne, auch, dass sie noch jeden Tag in der Küche werkelt, wenigstens ein bisschen, um ihre Selbstständigkeit zu demonstrieren und sich dann doch nicht ganz so alt fühlen zu müssen, selbst mit 100 Jahren. Das ist ihr wichtig.

Als ich mich nach fast zwei Stunden von verabschiede, steht auch die fast Hundertjährige auf. „Wenn ich so lange gesessen habe, dann muss ich meine Beine bewegen.“ Sie schnappt sich ihren Rollator und demonstriert mir, wie sie in ihrem Haus ihre Runden dreht, durch Flur, Küche und Esszimmer. Mich erstaunt, wie flott sie unterwegs ist. „10mal geh ich immer so rund, dann mach ich eine Pause“, erklärt sie mir und schwärmt gleichzeitig von den Vorzügen ihrer Gehhilfe. Man kann eben auch mit 100 noch irgendwie jung wirken, alles eine Herzenssache.

Ich bin beeindruckt...von der demonstrierten Mobilität, der gezeigten Lebensfreude und ihrem Geburtstagswunsch. 

Schon jetzt alles Gute zu diesem ganz besonderen Jubiläum, Len!

Übrigens, auch ihre Schwester Katharina war mit einem ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen, der in Freilingen als Zwangsarbeiter eingesetzt wurde, verheiratet. Die dramatische Geschichte dieser deutsch-polnischen Verbindung hat Albert Luppertz eindrucksvoll in der Freilinger Chronik (S.55) beschrieben. Ein ergreifendes Stück Zeitgeschichte! Unbedingt nachlesen (die Freilinger Chronik findet man unter dem Menüpunkt Archiv unter Dokumente) !

 

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