Alles ist anders...das betrifft auch das diesjährige Gedenken der Dorfgemeinschaft anlässlich des Volkstrauertages am Sonntag, 15. November. Die traditionelle Kranzniederlegung am Ehrenmal unter Begeleitung der Freiwilligen Feuerwehr und des Musikvereins Freilingen musste leider coranabedingt wie so vieles in diesem Jahr ausfallen. Dennoch soll und muss auch in diesem Jahr ein Zeichen gegen das Vergessen gesetzt werden. Daher hat Judith Maur, die am 12. November nun auch offiziell vom Rat zur neuen Ortsvorsteherin ernannt worden ist, in aller Stille einen Kranz niedergelegt, während die Ansprache zum Gedenken nach dem Patronatsfest in der Kapelle am 13. November gehalten wurde. Hier ihre Gedanken zum Volkstrauertag!
Liebe Freilinger Dorfgemeinschaft.
Heute, am 15. November 2020 ist Volkstrauertag, den wir stets am Freitag Abend nach der hl. Messe gemeinsam und in Begleitung des Musikvereins und der freiwillgen Feuerwehr Freilingen begangen haben.
Doch auch hier ist dieses Jahr alles anders. Aufgrund der aktuell geltenden Coronaregeln habe ich bereits am Freitag Morgen im Stillen, stellvertretend für unsere Dorfgemeinschaft, einen Kranz niedergelegt, der unseren Gefallenen in Freilingen gilt. Einige Worte zur geschichtlichen Erinnerung, verbunden mit Gedankenanregungen, auch zur aktuellen Zeit habe ich zum Ende der hl. Messe am Freitag Abend vorgetragen:
Das Ende des Zweiten Weltkriegs ist 75 Jahre her.
Für uns Heutige hat der Krieg einen festen Rahmen aus Jahreszahlen, er dauerte von 1939 bis 1945. Aus dem Rückblick ergibt das die beruhigende Gewissheit: Zwischen diesen beiden Daten, in diesem zeithistorischen Kasten steckt der Krieg. Danach kam der Frieden, in dem wir, zumal in den westlichen Demokratien, relativ gut leben.
Doch damals, im Inneren des Kastens, kannte niemand dessen Dimension. Er war eine Black Box. Der Weltkrieg tobte global, sein letzter Tag lag im Irgendwann einer verhüllten Zukunft.
Hunderttausende Emigranten, Verfolgte und Inhaftierte spekulierten: Geht es noch ein Jahr? Oder viel länger? Vielleicht ist es im Winter vorbei? Millionen Menschen in der gesamten zivilisierten Welt hofften auf ein Kriegsende. Die Erlösung kam, und wer damals jung war, hat sie miterlebt.
Deutschland und ganz Europa lag in Trümmern. Alliierte Soldaten bargen jüdische Überlebende aus den Lagern. Millionen deutscher Familien wussten nicht, ob ihre Väter, Söhne und Brüder zurückkehren würden, Bretterzäune hingen voll mitSuchmeldungen des Roten Kreuzes. In den Straßen sah man Kriegsversehrte und Flüchtlinge, Kinder hatten Unterricht in Behelfsbaracken. Aber die Bomber dröhnten nicht mehr durch die Nacht, und in Europa endete die Menschenjagd der Nationalsozialisten. „Kriegsende“ ist ein tröstliches Wort. Der Krieg ist also an sein Ende gekommen, fast als sei er eine Art Jahreszeit gewesen. Wie ein Naturereignis beschreibt unsere Sprache ja auch seinen Anfang: „Der Krieg bricht aus“, heißt es. So verkleidet Sprache, was alle besser wissen: Kein Krieg bricht aus wie ein Vulkan oder ein Fieber. Menschen hatten den Krieg verantwortet, und die Kapitulation des „Dritten Reichs“ war Voraussetzung für den Aufbruch in eine Neuordnung unter den Leitsternen Demokratie und Menschenrecht.
Mit der sogenannten „Stunde Null“ begann das Forträumen des Schutts. Städte erstanden auf, während alliierte Finanzhilfe und Aufbaueifer die Bundesrepublik aus den Ruinenfeldern ins Wirtschaftswunder bugsierten. Der Kasten, in dem der Krieg gesteckt hatte, bekam mit dem Mai 1945 seinen Datumsdeckel, und viele Deutsche hätten den Kasten gern zugenagelt, um den moralischen Bankrott der Gesellschaft darin zu begraben, so wie man die Toten begraben hatte.
Aber authentischer Frieden verlangt nach Wahrheit, denn menschliche Seelen kennen keine Stunde Null. Nein: Die Seele muss ihr Handeln und Erleben erkennen und verarbeiten. Deshalb wurde der Deckel des Kastens nicht zugeschlagen, sondern angehoben. Und je mehr Licht in den Kasten fiel, desto größeres Grauen kam zum Vorschein, zunächst mit den Nürnberger Prozessen. Der Zivilisationsbruch des Holocaust hatte
die Gattung verraten; er hatte Gott denunziert, klagten andere, wieder andere verloren ihren Glauben. „Gott war immer da“, sagte der Londoner Rabbiner Lionel Blue einmal über Auschwitz: „Aber die Menschen
waren nicht da.“ Das heißt: Die Täter hatten ihre Menschlichkeit verloren.
Die Älteren zu konfrontieren, blieb lange ein Tabu. „Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zugelassen?“ Zu solchen Fragen besaß erst die nächste Nachkriegsgeneration den Mut, die der Rebellen in den 1960er Jahren. Sie skandierten das laute Echo auf die bald nach 1945 entstandene Devise: „Nie wieder Krieg!“ Inzwischen sind, vor und nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, eingegrenztere Kriege auf den furchtbaren Zweiten Weltkrieg gefolgt, in Korea, Algerien, Vietnam und Kambodscha, in Jugoslawien – und heute in Syrien, in der Ukraine, in Libyen, im Yemen.
„Wie konnte das geschehen?“ „Warum habt ihr das zugelassen?“
So werden Leute, die heute Kinder sind, später einmal mit Recht fragen. Die Zuschauer wie die Schuldigen werden dann wieder versuchen zu verdrängen, zu bagatellisieren, zu vertuschen, den Kasten zuzunageln.
Doch die Weltgemeinschaft lernt, und es wird wahrscheinlich mehr und schneller Antworten geben als zuvor in der Geschichte.
Wie stark weltweite Anstrengung für menschliche Zwecke wirken kann, das beweisen uns in diesem Jahr die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der Corona-Krise.
Das Virus ist kein Feind, es ist nichts als ein genetisches Programmpartikel, das sich vermehrt. Ganz gleich, was egoistische Regierungen und Konzerne treiben: Auf allen Kontinenten werden Erkenntnisse ausgetauscht, freut man sich an Fortschritten und sucht nach Impfung und Heilung, unterstützt von Leuten, die für das Allgemeinwohl geben.
Die Menschheit kann sich selbst der ärgste Feind sein, wie in der von Deutschland initiierten Barbarei zwischen 1933 und 1945. Die Menschheit kann aber auch zur Freundschaft mit sich selber finden, sich mit sich selber anfreunden.
Vielleicht gibt auch und gerade die Corona-Pandemie uns dazu jetzt eine Riesenchance.
(Textpassagen aus dem Volksbund)
Ihre Judith Maur